Schreiben und Lesen...

        

... das gehört zusammen wie gutes Training und ein schneller Wettkampf. Es muss aber nicht immer mit Laufen zu tun haben. Hier bekommt ihr jeweils eine Story angeboten, die sich ums Laufen dreht, oder auch nicht.



 


Hier steht die Homestory vom Hannover Marathon. Bei so einer Großveranstaltung gibt es immer was zu erleben. Mit unserer Truppe sowieso.


Teil 1


Vegane Wurst macht schnelle Beine.


Das ist die große Frage, die mich nach dem Tag beim Hannover Marathon bewegt. Ob wir darauf eine Antwort erhalten werden? Schauen wir mal…


Als um 6 Uhr der Wecker klingelt, denke ich jedenfalls nicht an vegane Wurst. Dafür geht mir der Marathon schon im Kopf herum. Ich bin froh, dass ich selbst nicht laufen muss. Meine Form reicht weder für eine gute Zeit noch für ein gewisses Maß an Spaß auf den 42,195 Kilometern aus.


Mein Augenmerk heute liegt auf Sabine. Wenn alles gut läuft, könnte sie den Deutschen Rekord auf der Marathonstrecke, in der Altersklasse W65, brechen. Das wäre phänomenal, steht aber zu diesem Zeitpunkt noch in den Sternen.


Kathrin und ich machen es uns kurz am Esstisch bequem. Zwei Scheiben Honigbrot und ein Kaffee, das muss reichen. Danach bekommt Arkadi seinen Morgenspaziergang und Punkt 7 Uhr fahren wir los, um Annike, Petra und Roman einzuladen. Wir fünf sind heute als Unterstützer-Team unterwegs. Wir wollen für das ganze Drumherum sorgen, während Sabine, Natascha, Eileen, Jan, Jürgen und Marco fürs Laufen zuständig sind.


Wir sind früh dran. Annike und Roman laden ihren Hund bei Annikes Eltern ab, dort warten wir auf sie. Als die Beiden ankommen, präsentieren sie uns ein Top-eingespieltes Team. Autotür auf, Annike plus Hund im Laufschritt raus, Roman schnappt sich die Taschen, eine Minute später sitzen sie bei uns im Wagen. Minuten später laden wir Petra ein. Als wir vom Hof fahren, winkt Henning, todschick im Bademantel, hinter uns her.


Die Anfahrt nach Hannover ist frei. Die äußeren Bedingungen sind bestens. Roman sagt: „Ich wollte in Hannover laufen. Jetzt noch warten bis Hamburg. Mist. Ich fühle mich gut. Heute könnte ich was reißen.“ Ich frage Annike, was sie Roman zum Frühstück gegeben hat, dass er so drauf ist. Annike sagt: „Das liegt vermutlich an der veganen Wurst. Die isst er sonst nicht.“ Wir müssen lachen. Das geht ja gut los. Und es geht gleich gut weiter. Da, wo wir parken wollten, ist tatsächlich etwas frei. Was soll da heute noch schiefgehen?


Rund um das Rathaus herrscht das bunte, vielfältige Marathon-Treiben, das wir schon von so vielen Stadtmarathons kennen. Aufgeregte Läufer sprechen mit ihren Vereinsfreunden oder Angehörigen. Es wird an Klamotten gezuppelt und die Schuhe werden noch einmal geschnürt. So ein wenig Aufregung vor dem Start ist für den späteren Lauf gar nicht mal schlecht. Wir treffen Sabine und Sigurd. Sabine ist ganz locker drauf. Da kann ich mich an ganz andere Läufe erinnern. Da tippelte sie schon vor dem Startschuss auf den Zehenspitzen herum, musste ungezählte Male auf Toilette und hatte Pulswerte, die man sonst nur bei einem Tempolauf messen kann. Ich nehme sie in den Arm und sage: „Das wird schon werden heute. Lauf so schnell, wie Du kannst. Mehr brauchst Du nicht machen.“



Die Zeit vergeht im Flug. Schon steht Sabine im Starblock A der Deutschen Meisterschaften. Ich postiere mich direkt an der Startlinie, um ihre korrekte Zeit zu stoppen. Bei so einem Rekordversuch kann es um Sekunden gehen. Der Schuss fällt, das Feld geht los und ich schnappe mir Annike und Roman, damit wir zusammen zu Kilometer 2 laufen können. Dort treffen wir auf Sigurd, Petra und Kathrin. Dann schießt das Feld auch schon heran. Die Spitzengruppe fliegt vorbei. Dahinter rauscht der Lindwurm der 2600 Marathonläufer heran. Sabines stärkste Konkurrentin ist vor ihr, aber das hat jetzt überhaupt nichts zu sagen. Ein Marathon beginnt bei Kilometer 30, nicht bei Kilometer 2.



Als das Feld durch ist, können wir langsam Richtung Kilometer 10 gehen. Es ist keine Eile geboten. Dort angekommen nutzen Annike, Roman und ich ein Dixi an der Strecke. Ich sage es, seit ich 1998 meinen ersten Marathon gelaufen bin: „Ein Marathon ohne Dixi-Besuch ist kein Marathon.“ Hätten wir das also auch.



Wir bekommen einen schönen Überblick über das Feld und dann sehen wir auch schon Sabine. Jetzt ist sie vorn. Sehr schön. Wir laufen einen Kilometer nebenher und sind der Meinung, dass das alles ziemlich gut aussieht. Dann trennen sich unsere Wege. Damit wir Sabine möglich oft sehen können, wollen wir eine Handvoll Abkürzungen laufen, um bei den Kilometern 13, 23, 29, 31, 32, 36 und 41 live dabei zu sein. Ein ambitionierter Plan. Als wir jetzt loslaufen, um Kilometer 13 zu erreichen, gibt Roman das Tempo vor. Ich schaue Annike an: „Was ist denn mit dem los. Hat der am Blitz geleckt, oder was?“ Annike lacht. „Vielleicht ist es doch die Wurst.“ So, wie wir unterwegs sind, werden wir auf jeden Fall unsere Zielpunkte an der Strecke erreichen.



Bei Kilometer 13 haben wir ein großes Zeitfenster. Ich habe das schon zig-Mal gesehen, aber Annike und Roman staunen nicht schlecht, was da alles für Laufstile an uns vorbeilaufen. Wackelnde Köpfe, schlenkernde Arme, ein Bäuchlein, steife Beine, X- und O-Beine. Das Interessanteste dabei ist: Viele dieser seltsam laufenden Menschen sind deutlich schneller unterwegs, als wir das selbst hinbekommen würden. Roman ist baff: „Weißt Du, was die für Zeiten hier laufen? Ich fasse es nicht. Wie sieht das erst aus, wenn ich laufe?“ Ich kläre Roman auf, dass die Laufstile und die Laufzeit zwei völlig verschiedene Dinge sind. Ich bin schon auf 100 Kilometer-Rennen von Läufern überholt worden, denen hätte ich rein optisch nie zugetraut fünf Kilometer zu schaffen. Aber um Optik geht es beim Laufen nicht; auch wenn viele Läufer das glauben.



Sabine hat sich einen kleinen Vorsprung erlaufen. Sie ist im Zeitplan. Perfekt. Wir klatschen noch den ein oder anderen Bekannten ab und Annike ruft Läuferinnen und Läufern hinterher, die ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen habe. Schnell merke ich, dass es sich dabei um Follower und Influencer handelt. Instagram ist angesagt. Da bin ich komplett draußen. Ein „alter Sack“ wie ich, glaubt ohnehin, dass es einen gewaltigen Unterschied zwischen einem sportlichen Wettkampf und einem „Spaß-Event im Livestream“ gibt. Für mich ist das Eine Arbeit und das Andere Clownerie, aber: Das ist meine ganz persönliche Einzelmeinung (die Liebe meines Lebens würde ergänzen: Die Meinung eines alten Mannes).



Teil 2


Weiter geht es. Roman rennt vornweg und Annike und ich rennen hinterher. Wir erreichen Kilometer 23 im Sauseschritt. Jetzt stoßen die Halbmarathon-Felder mit den Marathonläufern zusammen. Es wird unübersichtlich. Die Felder vermischen sich. Außer Sabine müssen wir jetzt auch noch ein Auge auf Jan, Marco und Natascha haben. Eileen und Jürgen zu sehen, werden wir zeitlich nicht schaffen. Es dauert nicht lange und wir erblicken Jans weißes Laufshirt in der Menge. Jan geht durch das Feld der Marathonläufer wie ein Messer durch warme Butter. Leicht und locker zischt er vorbei und reckt den Arm zum Zeichen seines Selbstbewusstseins. Das gefällt mir. 



Kurze Zeit später kommt Marco. Auch er sieht gut und schnell aus. Die Jungs machen das wirklich gut. Dann ist Sabine da. Sie hat ihren Vorsprung weiter vergrößert und ist noch immer exakt auf der Marschtabelle. Ich teile ihr die Abstände mit und schon ist sie wieder in der Menge verschwunden. Auch Natascha erwischen wir noch. Trotz längerer Krankheitspause ist sie gut unterwegs. Das sieht gut aus.



Wir düsen weiter zum nächsten Kilometerpunkt. Das ziehen wir jetzt durch über die Kilometerpunkte 29, 31, 32 und 36. Wir sind punktgenau immer da, wenn unsere Läufer kommen. Ich muss mich loben, obwohl man das ja eigentlich nicht soll. Die Planung ist gut. Wir sehen Sabine an jedem Punkt. Dazwischen hecheln wir durch die Stadt in altgewohnter Reihenfolge. Roman, Annike, Thomas. Auch für uns ein gutes Training.


Bei Kilometer 36 schaue ich auf die Uhr und erkenne das erste Mal, dass Sabine etwas langsamer geworden ist. Ich laufe ein paar Meter auf dem Bürgersteig neben ihr mit. Ihr Bein schmerzt und sie hat Angst, dass sie einen Krampf bekommt. Ich kenne Sabine, jedenfalls was ihr läuferisches Potential angeht, sehr gut. Ich weiß, dass sie in jedem Wettkampf alles gibt, was sie anzubieten hat. Was Schmerzen und Schwierigkeiten während des Rennens angeht, ist sie ein verdammt „harter Hund.“ Es scheint jetzt also wirklich schwer zu werden. Ich beruhige sie. „Lauf dein Rennen weiter. Kein Stress. Du liegst auf Kurs Deutsche Meisterin. Der Rest ist egal. Du musst ankommen. Das ist wichtig.“


Wir geben Gas, um Kilometer 39 zu erreichen und als Sabine uns dort passiert, ist die Marschtabelle für den Deutschen Rekord Geschichte. Es fehlt zwar nur eine Minute, aber die ist auf zwei Kilometern nicht einzulaufen. Vor allem sehe ich an Sabines Gesicht, dass es für sie im Moment absolut zäh geworden ist. Sie kämpft auf den letzten Kilometern. Gut, dass der Abstand zu ihrer Verfolgerin so groß ist, dass da nichts mehr anbrennen kann.



Auf dem Weg zum Ziel checkt Roman die Zeiten unserer Halbmarathonläufer. Die sind wirklich gut. Darüber freuen wir uns. Wir bewegen uns Richtung Auslaufbox der Marathonstrecke. Dort ist ein wildes Gewusel im Gange. Tausende von Läuferinnen und Läufern sind im Ziel angekommen. Sie trinken, quatschen, dehnen sich und sind froh, den Lauf gemeistert zu haben. Sabine hier zu finden, erweist sich als unmöglich. Dafür gibt es einen kleinen Fun-Fact, für mich. Ich sehe einen Marathon-Läufer, denn Annike mehrfach auf der Strecke angesprochen hat. Eine Instagram Bekanntschaft. Als ich ihn sehe, bin ich etwa 10 Meter vor Annike und Roman. Der junge Mann kann kaum gehen, bewegt die Beine wie zwei alte Knorrstöcke. Er wirkt komplett „angeschossen“ auf mich. Annike und Roman haben ihn noch gar nicht bemerkt. Dann sehen sich die drei und der junge Mann geht auf einmal kerzengerade. Im Gespräch mit Annike und Roman schildert er, dass er durchaus hätte schneller laufen können, aber er wäre auch so zufrieden. Ich stehe fünf Meter daneben, höre zu und denke: Du Schnacker! Als die drei sich trennen, schildere ich Annike und Roman, wie steif und hakig ihr Gesprächspartner gerade noch auf den Beinen war und, dass er ihnen da wohl eine kleine Räuberpistole erzählt hat. Wir müssen lachen.


Letztendlich treffen wir uns alle hinter dem Rathaus. Freude, Umarmungen, Glückwünsche ohne Ende. Die Truppe ist gut drauf. Ich habe nichts anderes erwartet. Geschichten vom Lauf machen die Runde. Alle sind mit den erzielten Leistungen zufrieden. Sehr schön!



Am Ende beginnt das schwerste Rennen des Tages. Annike möchte unbedingt ein Eis ausgeben. Leider hat die Eisdiele hinterm Rathaus kein Eis mehr. Mist! Schon vorher, neben dem Rathaus, hatten Annike und Roman vergeblich an einer Bude angestanden. Auf dem Weg zum Auto ist ein Eiswagen. Doch da gibt es nur Eis für die Läufer einer bestimmten Firma. Es soll einfach nicht sein. Es gibt Rennen, die sind schlichtweg nicht zu gewinnen.



Die Nachhause Fahrt ist eine Fahrt voller Geschichten. Die kann sich kein Mensch alle merken. Während ich fahre, lausche ich auf die Berichte meiner Mitfahrer. Ab und an drifte ich in Gedanken weg. Dann überlege ich, ob ich vielleicht auch mal vor dem Wettkampf eine vegane Wurst essen sollte. Allerdings habe ich diese Köstlichkeit schon mal probiert. Aus diesem Grund, denke ich, werde ich doch lieber beim Mett-Brötchen bleiben und einfach ein bisschen langsamer laufen. In meinem Alter kommt es ohnehin nicht mehr drauf an…



Thomas Knackstedt