Schreiben und Lesen...

        

... das gehört zusammen wie gutes Training und ein schneller Wettkampf. Es muss aber nicht immer mit Laufen zu tun haben. Hier bekommt ihr jeweils eine Story angeboten, die sich ums Laufen dreht, oder auch nicht.



 


Die Stimme der Vernunft.


Wo ist sie, in diesen Tagen. Sie scheint zu schweigen. Oder sind die wütenden Mobs so laut, dass die Stimme der Vernunft nicht mehr zu hören ist? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es Zeit wird, dass wir sie wieder hören. Ohne sie werden wir den Scharlatanen, Marktschreiern und Egomanen zum Opfer fallen. Viele werden ihren Versprechungen Glauben schenken und sich willfährig und mit Freuden zur Schlachtbank der Demokratie führen lassen. Wenn das Blutbad dann beginnt, wird es wieder einmal keiner gewesen sein, der dafür verantwortlich war. Dabei ist es jeder einzelne von uns. Ohne Wenn und Aber.


Die weltpolitische Lage ist derart komplex und verwoben, dass einfache Lösungen schon lange nicht mehr zur Verfügung stehen. Wer dem einen das Wasser abgräbt, steht Morgen selbst auf trockenem, verdorrtem Boden. Die Beziehungen in Politik und Wirtschaft sind zu einem Netz geworden, das die Welt umspannt und Jeden mit Jedem verbindet. Eigentlich gar nicht mal schlecht, denn unsere Feinde sind so abhängig von uns, wie wir von ihnen. Doch in den letzten Jahren ist etwas ins Rutschen gekommen. Nicht nur hier bei uns, sondern weltweit.


Wir halten nicht mehr zusammen. Schillers Ausspruch: „Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt“ ist schon lange nicht mehr aktuell. Das Gegenteil ist der Fall. Wir denken an uns! Selbst zuletzt! Wir sind zu einer Gesellschaft von Egomanen und Besserwissern mutiert. Ein Teil von uns sucht Gerechtigkeit in einer nicht definierbaren, brandgefährlichen Wut, die oftmals nur Ausdruck der eigenen, kleinen Erbärmlichkeit ist. Wir wollen die Großen fallen sehen, wir träumen davon es „denen da oben“ zu zeigen. Dabei realisieren wir gar nicht, dass „die da oben“ von uns dorthin gewählt wurden. Es wäre auch kein Problem, sie nach vier Jahren Wahlperiode „da oben“ wieder wegzubekommen. Doch darum geht es nicht. Es geht um den Aufschrei, die Empörung, den Skandal. Kein Land der Welt geht mit seinen Dichtern, Denkern und Lenkern derart fahrlässig um wie wir. Wir erwarten von Menschen Unmögliches. Und zwar gleich, sofort, hier und jetzt. Das Ganze am besten zum Nulltarif. Doch wie soll das gehen? Das ist so, als wollte man für 4,50 Euro die Bibel verfilmen.


Wir scheinen weder an Kompromissen noch an Beschränkungen interessiert zu sein. Wir wollen alles, nur keinen Verzicht. Egal wie gering dieser Verzicht auch ausfallen soll, für uns ist er nicht hinnehmbar.


Von der Zukunft, die alles andere als rosig am Horizont wartet, wünschen wir uns Wunder. Irgendeine Technik, die alle Umweltsorgen obsolet macht. Vielleicht ein Geschehen, was auch immer das sein mag, das den Krieg in der Ukraine beendet und den in Nahost gleich mit. Irgendwer, irgendwo, irgendwann wird das doch wohl richten, oder?


Wir reden in Talkshows, auf der Straße, in der Kneipe, und vor allem in den Sozialen Medien. Da verlieren wir jede Scheu und jede Scham und krempeln unsere Innerstes nach außen. Ein Inneres, das manchmal so widerlich, hässlich und krank ist, dass einem schlecht davon werden kann. Über die Folgen machen wir uns keine Gedanken. Wir stacheln nicht auf, wir machen nicht wütend, wir sind nicht ungerecht, schon gar nicht rassistisch oder faschistisch, nein. Wir sagen nur unsere Meinung. Allerdings nicht mit Klarnamen. Man weiß doch, was es für schlimme Typen gibt, die einem dann alles verbieten wollen.


Wie soll das weitergehen? Verstörte Jugendliche, die sich auf der Straße festkleben. Treckerfahrer, die wütend den Verkehr blockieren. Arbeiter, die wegen jedem neuen Gesetz oder einer neuen Verordnung die Arbeit niederlegen. Eine Migrationsfrage, die das ganze Land spaltet, an deren Lösung aber nicht wirklich jemand mit vollem Engagement arbeitet. Aufgebrachte Mobs, die Juden durch deutsche Straßen jagen. Ein Staat, der nichts verbieten will und jede aufkommende Unruhe mit Subventionen und Zuschüssen beruhigt. Menschen, die, ohne darüber nachzudenken, ihr Wahlkreuz bei einer Partei machen, die rechtsradikal ist. Ein Europa, das vieles regeln könnte, sich aber selbst Fesseln angelegt hat, die jedes gemeinsame Agieren komplett abwürgen.


Wenn die Stimme der Vernunft sich nicht bald zu Wort meldet, werden wir andere Stimmen hören. Wer die Ohren aufsperrt, kann sie jetzt schon hören. Die Stimme eines Lügners und Narzissten, der die größte Wirtschafts- und Militärmacht der Welt zu „seiner Firma“ machen will. Der Gott verhöhnt und sich um Wahrheit und Gerechtigkeit einen Dreck schert.  Die Stimme eines ewig gestrigen Führers, der von Zarenzeiten träumt, sein Land mit Gewalt erweitern will und nebenbei noch jeden Andersdenkenden einsperren oder umbringen will. Bei dem gleichgeschlechtliche Liebe und selbstbestimmtes Leben Kapitalverbrechen sind. Die Stimmen von Despoten, die ihre Machthebel benutzen, um von Anderen Geld, Waffen und Folgsamkeit zu erpressen. Die Stimmen von Terroristen, denen Menschenleben egal sind. Die bereit sind für ihre kruden Ideen von Religion und Gott bestialisch zu morden und sich damit auch noch brüsten.


Die Aufzählung dieser Stimmen, die immer lauter und schriller werden, könnte endlos weitergeführt werden. Dabei sind nicht diese Stimmen die Gefahr, sondern diejenigen, die ihnen zuhören, ihnen vielleicht sogar Glauben schenken. Eine Armee der Dummen und Verführbaren wird gerade rekrutiert, um die Welt, so wie wir sie kennen, zu verändern. Sie soll nicht minimal umgestellt und neu designet werden, nein. Sie soll mit Raketen, Bomben, Baggern, Mahlwerken, Waffen und Panzern in Stücke geschlagen, zermalmt und vernichtet werden. Die „neue Welt“ soll auf den Trümmern unserer Welt aufgebaut werden. Nicht weniger.



Und obwohl die Stimmen des Wahnsinns, ihren Irrsinn nicht für sich behalten können und schon jetzt vom Sieg faseln und uns den Weg dorthin haarklein beschreiben, machen wir… NICHTS. Das wird sich rächen. Die Stimme der Vernunft erscheint nicht auf Knopfdruck. Ganz sicher nicht. Wir werden etwas dafür tun müssen, um sie zu hören. Sie kann weder gekauft noch herbeigebetet werden. Wer sie hören will, muss dafür sorgen, dass sich die Ohren der Menschen öffnen. Wir müssen Werbung für sie machen und mit denen reden, die mit uns nicht reden wollen. Wir müssen offen für Kompromisse sein und gleichzeitig knallhart und klar in der Kommunikation und Durchsetzung unserer demokratischen Leitlinien sein. Wir dürfen nicht zu Maulhelden verkommen, sondern müssen echte Macher sein. Um das zu erreichen, wofür Generationen vor uns gekämpft haben, müssen wir mit allem für die Demokratie einstehen, was wir haben. Und nicht nur bei uns, sondern überall auf der Welt. Das, was heute unserem Nachbarn geschieht, kann Morgen unseren Untergang bedeuten.


Die Träume von Autokraten, Faschisten und Nationalsozialisten begraben sich nicht von selbst. Manchmal muss man seinen Mund aufmachen. Auch wenn drastische Konsequenzen drohen. Auch wenn wir die Stimme der Vernunft nur noch selten hören, weiß ich mittlerweile genau, wo sie ist. Sie ist in Dir und mir, in jedem von uns. Wir wissen ganz genau, was falsch und richtig ist. Wir dürfen keine Angst haben, das laut und deutlich zu benennen. Denn wenn die Stimme der Vernunft in uns stirbt, dann stirbt sie überall…



Thomas Knackstedt