Schreiben und Lesen...

        

... das gehört zusammen wie gutes Training und ein schneller Wettkampf. Es muss aber nicht immer mit Laufen zu tun haben. Hier bekommt ihr jeweils eine Story angeboten, die sich ums Laufen dreht, oder auch nicht.




Tod.


Es gibt Momente, da denke ich an den Tod. Ich weiß, dass es jedem Menschen so geht. Der eine denkt öfter an das Ende, der andere weniger. Wie sollte es auch anders sein. Nur die Gewissheit des Todes gibt unserem Leben einen Sinn. Würden wir endlos leben, wäre alles einerlei.


Vor ein paar Tagen allerdings, da machte mich der Gedanke an den Tod derart traurig und fassungslos, dass ich eine Minute brauchte, um mich zu sammeln. Dabei war die Ursache für den Gedanken winzig klein. Ich hatte am Vortag, draußen am Vogelhaus, einen kleinen Erlenzeisig gesehen, der krank aussah. Er bewegte sich langsam und sein Gefieder war unnatürlich aufgeplustert. Beides keine guten Anzeichen. Die Erlenzeisige kommen jeden Winter in Hundertschaften an unsere Futterstelle. Sie scheinen nicht gern allein zu sein und versammeln sich immer in großen Gruppen.


Als ich am nächsten Tag aus dem Haus ging, lag der kleine Erlenzeisig tot auf dem Hof. Er tat mir leid. Ich nahm ihn in die Hand und konnte sein Gewicht kaum spüren, so leicht war er. Ich trug ihn zum Bach und er erhielt dort, so wie es bei uns bei verstorbenen kleinen Vögeln üblich ist, eine Seebestattung. Als die Wellen des Bachs ihn sanft fortspülten, dachte ich daran, dass das nur ein einzelner Zeisig von vielen Hunderten war. Aber der Gedanke mündete nicht in der Feststellung, dass das nicht so schlimm sei, sondern ganz woanders. Ich musste nämlich daran denken, dass all diese Zeisige, die ich diesen Winter so gern beobachtet habe, sterben werden. Und nicht nur sie. Auch die Spechte, Spatzen, Meisen, Kleiber, Eichelhäher, Tauben, Finken, Baumläufer, Amseln, Drosseln, Dompfaffe und Rotkehlchen, die ich beobachtet habe, werden sterben.



Ich konnte diesen Gedanken nicht mehr einfangen. Mir wurde nach und nach klar, dass alle Hunde, Katzen, Wale, Kühe, Rehe, Luchse, Schafe, Fische, Insekten, Löwen, Elefanten, Regenwürmer, Schmetterlinge, Füchse, Biber, Mäuse, Ratten, Bären und was sonst noch auf diesem blauen Planeten herumkreucht, sterben wird. Unausweichlich. Mein Kopf verpasste mir gleich noch einen Nachschlag dazu. Meine Mutter, meine Freunde, alle meine Bekannten, meine Idole, meine Kinder und die Liebe meines Lebens, auch die werden sterben. Natürlich werde auch ich mich dazu gesellen. Doch seltsamerweise sah ich darin keinen besonders großen Verlust für mich. Verrückte Gedanken gehen einem manchmal durch den Kopf.


Ich war aber noch nicht am Ende. Es würde auch alle Pflanzen erwischen. Jede einzelne. Ob Grashalm oder Mammutbaum, ob Flechte oder Alge. Es würde keine Überlebenden geben. Auch die Erde, die Steine, die Felsen, das Wasser, die Luft, alles würde irgendwann vergehen. So wie dieser Planet, die Sonne, die Galaxis, das ganze verdammte Universum. Irgendwann, mit einem lauten Knall oder vielleicht einem kleinen Pfffft wäre es vorbei. Alles.


Wenn mir solche Gedanken durch den Kopf gehen und ich ein paar Minuten später die Liebe meines Lebens umarme, oder aber den Hund streichele, könnte ich sofort losheulen. Ich weiß aber, dass das auch nichts an dem ultimativen Ende von allem etwas ändern würde. Insofern kann man völlig unnütze Dinge auch unterlassen. Wie also umgehen mit dieser Gewissheit, dass wir, und alles um uns herum, nicht nur verletzlich, sondern tödlich endlich ist?


Genau da kommt wieder mein Kopf ins Spiel. Der macht manchmal einfach, was er will. Da sehe ich, wie ein kleiner Grashalm sich seinen Weg durch die Pflastersteine auf dem Hof sucht. Da blicke ich auf den Nistkasten und fünf kleine Blaumeisen stürzen sich in den ersten Flug ihres Lebens. Da treffe ich einen Freund, der seinen kleinen Hundewelpen auf dem Arm hat. Da turteln die Zeisige in unserer Hecke und sind ganz wild darauf, sich zu vervielfältigen. Da geht ein junges Paar, Hand in Hand, an unserem Haus vorbei. Da endet der Regen und die Sonne bricht sich Bahn durch die Wolken. Am Abend stehe ich dann auf dem Balkon und kann meinen Blick nicht vom Vollmond abwenden, der majestätisch über dem Berg steht. Dann bahnt sich der entscheidende Gedanken seinen Weg in meinen Kopf: Alles ist gut, so wie es ist! Damit kann ich wunderbar leben…


Thomas Knackstedt